Ich fühle mich so schuldig!

Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Wieso habe ich bloß nicht mehr Zeit mit ihm verbracht? Er hatte mich doch noch gefragt, ob ich vorbeikomme. Es war mir in dem Moment einfach zuviel. Und jetzt ist alles zu spät. Ich hab‘ es echt versemmelt. Ich finde es so schwer damit zu leben“

So ähnlich hören sich die Sätze an die ich von Trauernden zu hören bekomme, die plötzlich und unerwartet einen lieben Menschen verloren haben. „Ich fühle mich so schuldig!“ Immer wieder kreisen die Gedanken darum, was hätte anders laufen können, was man hätte besser machen können.

Schuldgefühle in der Trauer sind sehr verbreitet.

Dabei handelt es sich meist gar nicht wirklich um Schuld. Schuldig ist man, wenn man absichtlich etwas falsch gemacht hat oder bewusst ein Vergehen begangen hat. Das liegt bei Trauernden in den meisten Fällen nicht vor.

Trauernde wünschten oft sie hätten sich anders verhalten, wenn sie gewusst hätten, was passiert. Das konnten sie ja aber gar nicht wissen! Sie bewerten eine vergangene Situation aus der Perspektive des heutigen Wissens. Damit sind sie sich selbst gegenüber nicht fair. Sie bewerten sich, verurteilen sich und stellen sich selbst vor Gericht.

Schuldgefühle münden im Kopfkino

Leider mündet dieses Schuldgefühl in einem Kopfkino, das kein Ende mehr nimmt. Das Schuldgefühl verstärkt sich mit der Zeit und löst sehr schmerzhafte Gefühle aus. Die Vorwürfe graben sich immer tiefer wie eine Spirale in unser Herz und können den Körper richtiggehend in Stress versetzen. Je nachdem wie wir gestrickt sind, fühlen wir uns nach ein paar Runden im Gedankenkarussell schlechter und schlechter.

Wie ein Betonmischer drehen wir unsere Gedanken um die Situation, die wir uns anders gewünscht hätten und oft ist uns nicht bewusst wie sehr wir uns selbst damit einbetonieren. Glauben wir unseren Schuldgefühlen, stecken wir uns selbst damit in ein inneres Gefängnis.

Denn wenn wir uns sagen: „Ich bin schuld. Ich habe etwas falsch gemacht,“ dann ummanteln wir das Schuldgefühl mit einer vermeintlichen Tatsache und sperren uns ein.

Hätten wir denn, was schlussendlich passiert ist, wirklich vermeiden können?

Lass uns doch mal einen Perspektiv-Wechsel einnehmen:

Schuld ist kein Gefühl, sondern eine Bewertung

Schuld ist kein Gefühl, sondern eine Bewertung, die wir über uns verhängen, die uns schlecht fühlen lässt. Schuldgefühle basieren auf der (oft unbewussten) Annahme, dass wir das Leben mehr kontrollieren könnten, als es tatsächlich der Fall ist.

Fakt ist (LEIDER!), dass du mit einer Lebenssituation konfrontiert bist, die so ist wie sie ist und die du nicht verändern kannst. Du hast keine Kontrolle darüber.

Genauso wenig wie sich das Leben grundsätzlich kontrollieren lässt.

Wenn du einen Freund nicht mehr besucht hast kurz vor seinem Unfall, dich einmal im Leben gegen ein Kind entschieden hast und jetzt vielleicht keines mehr bekommen kannst…

Das daraus resultierende Schuldgefühl gaukelt uns Kontrollvermögen vor, weil wir uns durch unsere Selbst-Verurteilung suggerieren wir hätten etwas im Griff. De facto ist das nicht der Fall. Wir können oftmals nicht wissen, wie weitreichend die Konsequenzen unserer Entscheidungen sind.

Ist dir schon mal aufgefallen, dass du, wenn du dich schuldig fühlst, deine GESAMTE Person verurteilst? Dass du kein gutes Haar mehr an dir lässt? Welche Dynamik steckt dahinter? Welcher Gedanke dahinter befeuert das Schuldgefühl?

Was befeuert unsere Schuldgefühle?

Meist können wir einem Glaubenssatz auf die Schliche kommen, der schon viel länger in uns wohnt und sich weit vor der Situation, die wir uns nun anders wünschten, tief in uns verankert hat. Ein Glaubenssatz könnte sein: „Ich darf keine Fehler machen!“ Oder: „Ich bin für alles verantwortlich!“

Jetzt ist die perfekte Zeit diesen Glaubenssatz zu hinterfragen. Nutzt er dir? Entspricht er dem, wofür du dich bewusst entscheiden würdest? Willst du wirklich an diesem Anspruch an dich festhalten?

Du kannst der so schmerzhaften Abwärts-Spirale der Schuldgefühle Einhalt gebieten, indem du dich mit dem Glaubenssatz befasst und ihn lockerst, durch einen anderen ersetzt. Das ist meist natürlich leichter gesagt als getan. Sich den Glaubenssatz bewusst zu machen ist jedoch schon ein sehr wichtiger erster Schritt.

Der 2. Trick, den du anwenden kannst, um deine Schuldgefühle zu transformieren, ist: Achte auf deine Sprache.

Du weißt jetzt, dass du dich mit der Aussage: „Ich habe Schuld“ in ein Gefängnis sperrst. Benutze andere, angemessenere Worte, um das zu beschreiben was du erlebst.

Was fühlst du wirklich?

Benenne deine Gefühle. Ich vermute, dass du verzweifelt bist, dich vielleicht einsam und verloren fühlst. Aber das möchte ich dir nicht unterstellen. Ich behaupte nur, dass du, wenn du sagst, dass du dich schuldig fühlst, nicht wirklich Gefühle ausdrückst. Weißt du, was ich meine? Also, wenn du bereit bist, das Schuldgefühl nach und nach in Frage zu stellen, was könntest du statt dessen sagen? „Ich fühle mich…“

Es kann sich zunächst bedrohlich anfühlen, Gefühle zu benennen, zuzulassen. Weil wir Gefühle eben nicht kontrollieren können. Wenn wir fühlen, begeben wir uns in einen Prozess, wir befreien uns aus dem Gefängnis. Wenn wir uns erlauben zu fühlen, ist Veränderung möglich.

Was dabei ganz wichtig ist: Du musst dich nicht alleine in den Prozess begeben. Du kannst dir Hilfe holen, dich begleiten lassen. Niemand muss diesen Weg alleine gehen!

Eine ganz zentrale Erkenntnis möchte ich noch ansprechen. Sie liegt mir ganz besonders am Herzen.

Schuldgefühle generieren einen Tunnelblick

Schuldgefühle versperren den Blick auf den Menschen oder die Beziehung, um den du trauerst. Schuldgefühle generieren meistens einen Tunnelblick, der uns nur noch einen Ausschnitt wahrnehmen lässt.

Erlaube dir, deinen Blick wieder zu weiten. Schau dir die gesamte Beziehung des Menschen an, den du verloren hast. Die Beziehung besteht nicht nur aus dieser einen Situation, in der du dich nachträglich so gerne anders verhalten hättest. Welche Gefühle hast du noch? Was habt ihr erlebt und was hast du damals gefühlt? Gibt es noch andere unausgesprochene, unausgedrückte Emotionen? Welche Gefühle hast du zu dieser Person ganz unabhängig von der Situation, die du dir ankreidest?

Wage diesen Perspektiv-Wechsel.

Schuldgefühle können uns von der eigentlichen Trauer über den Verlust des Menschen ablenken. Die Trauer zuzulassen ist aber so wichtig. Dass es dir langsam wieder besser geht ist so, so wichtig.

Dass du aufhörst dich fertig zu machen ist so wichtig!

Von außen kann dich leider niemand von den Schuldgefühlen befreien. Das kannst nur du selbst. Ich lade dich dazu ein. Von Herzen.

P.S: Möchtest du mich zu diesem Thema im Interview erleben und noch etwas mehr erfahren? Klick dich hier ins Video oder hinterlass mir gerne einen Kommentar.