Am 15. März 2010 ist mein Vater gestorben.

Sechs Monate vor seinem Tod erfuhren wir die unbegreifliche Diagnose. Der Krebs war zurück zurück gekommen und es gab keine Chance auf Heilung mehr. Ein ganzes halbes Jahr lang wusste ich, dass mein Vater bald sterben würde und ich versuchte soviel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen.

Viele Male, immer kurz bevor ich aus meinem Heimatdorf im Landkreis Cuxhaven in mein eigenes kleines Zuhause nach Hamburg zurückkehrte, verabschiedete ich mich von ihm. 

Ich setzte mich an sein Bett, nahm seine Hand und umarmte ihn. 

Wie kann man den perfekten Moment herstellen, wenn man nicht weiß, ob dies womöglich die letzte Begegnung mit dem eigenen Vater ist? Ich wollte mir nicht den Vorwurf machen müssen, etwas Wichtiges nicht gesagt zu haben. Manchmal war ich zufrieden mit mir, ich fühlte mich authentisch, präsent, unabgelenkt. Manchmal beschäftigte ich mich die gesamte Heimfahrt über damit wie ich mich hätte anders verhalten können. Was ich noch hätte sagen können…

Irgendwann realisierte ich, dass ich alles, was ich meinem Vater bis dato sagen wollte, gesagt hatte. Und ich merkte, dass es ihm unangenehm war, wenn ich mich ständig wiederholte. Ich merkte, dass ich gut mit meinem Vater schweigen konnte und dass es mir Freude machte, Geschichten aus seinem Leben zu lauschen. Manchmal versuchte ich, seine Worte in mir abzuspeichern, sie festzuhalten, so dass ich seinen Humor, sein Wissen und seine Erlebnisse vielleicht irgendwann weitertragen könnte; mein Vater war ein brillanter Geschichten-Erzähler. Aber die inneren Bilder, Sätze und Worte, zerrannen in mir; fast als würden sie vor meinem Gedächtnis flüchten. Sie blieben einfach nicht haften, sie rieselten förmlich durch mich hindurch.

Manchmal stand ich nachts von einer inneren Unruhe getrieben auf, um gerade Gehörtes, Biographisches, kleine Anekdoten aus dem Leben meines Vaters aufzuschreiben, für die Nachwelt festzuhalten. Doch es machte mir keine Freude und das ärgerte mich. Bis ich begriff: Die Geschichten, die ich hörte, wollten keine Zeitreisenden sein, sie gehörten nur in diesen Moment. In die Vater-Tochter-Begegnung. In die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Augenblicks, der sich nicht festnageln und für die Zukunft formen ließ.

Momente lassen sich nicht festhalten

Ich lernte, dass es darauf ankam, im Erleben loszulassen, die Zeit mit meiner Familie zu genießen. Die Nähe, das Lachen, die Gespräche. 

Und ich lernte, dass es mit einem Sterbenden viele letzte Male gibt. Noch einmal gemeinsam einem Hauskonzert lauschen oder essen gehen. Das letzte Mal Weihnachten im Beisein meines Vaters. Ich lernte, dass ein Mensch nicht dazu fähig sein muss, jeden dieser Momente zu genießen. Das setzte mich erstens unter permanenten Druck und zweitens werden Beziehungen und Familien in Anbetracht des Todes nicht auf einmal perfekt. 

Intensiv zusammen zu sein ist nicht immer ein Genuss. 

Es gab Situationen in denen ich mich maßlos über meinen sterbenden Vater ärgerte, in denen ich seine Kommentare und Meinungen völlig unmöglich fand. Gleichzeitig wollte ich keinen Streit. Was wäre, wenn mein Vater in der Nacht nach unserem Streit sterben würde? Die Angst davor war zu groß. 

Durch meine Praxis der „Grief Recovery Method“ wusste ich jedoch, dass ich diese intensiven Gefühle nicht hinunterschlucken durfte. Sie würden nach und nach die Verbundenheit mit meinem Herzen blockieren und sich in dumpfen Schmerz verkapseln.

Nach meinen Besuchen im Elternhaus traf ich in Hamburg also meistens Freundinnen, denen ich von meinen emotionalen Erlebnissen berichten konnte. Die mir entgegengebrachte Empathie war heilsam, ich fühlte mich angenommen und lebendig und ich konnte die für mich unveränderlichen Situationen besser annehmen.

Immer wieder fuhr ich zu meinem Elternhaus. Und immer lebte mein Vater. Der Krebs hatte ihn stark verändert, er veränderte ihn in einer Radikalität, die ich so nicht erwartet hatte. Aber nie sah ich nur die Krankheit, immer erkannte ich meinen Vater. Sein Gesicht wirkte mal wie das Gesicht eines alten, greisen Mannes, dann wieder wie das eines schelmischen Jungen. Die verschiedenen Zeiten seines Lebens schienen sich noch einmal in seiner Physiognomie spiegeln zu wollen um auf ihre Art aus seinem Leben zu erzählen.

Abschied kostet mehr Kraft, als man zunächst wahrnimmt

Ich war überrascht wie gut ich mit den voranschreitenden Veränderungen seines Körpers umgehen konnte und noch mehr überraschte es mich, wie sehr ich in der Fürsorge für ihn aufging. Natürlich war es immer wieder auch sehr anstrengend, manchmal schreckte ich mitten in der Nacht hoch, weil ich hörte wie ihn seine Schlaflosigkeit aus dem Bett trieb oder ich fragte mich, ob er womöglich gerade nach uns gerufen hatte. Außerdem merkte ich, dass mich die Pflege und Sorge um meinen Vater mehr Kraft kostete, als ich realisierte.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich eines Abends nach einem mehrtägigen Aufenthalt bei meinen Eltern zurück nach Hamburg kam. Da saß ich nun in meiner dunklen und kalten WG-Küche und spürte, dass ich Bedürfnisse und Gefühle hatte, die meine Aufmerksamkeit brauchten.

Ich war kein körperloser, Wärme-spendender Engel, sondern eine hungrige, frierende Frau, die sich nicht aus ihrer Existenz beamen konnte.

Die Feststellung, dass ich mich ja nun um noch jemanden – um mich! – kümmern musste, provozierte in mir fast so etwas wie eine unbestimmte Aggressivität, zumindest einen großen Widerwillen und ich musste mich wohl oder übel dazu entschließen, auf meine Grenzen zu achten und immer noch Kraft aufzubewahren für mich und mein eigenes Leben.

Drei Tage vor dem Tod meines Vaters war ich wieder daheim.

Wir wussten, dass es nun schnell gehen konnte und tatsächlich hat sich die letzte Begegnung mit meinem Vater, an dem Tag, an dem er noch sprechen konnte, fest in mir verankert. Ich hüte sie wie einen Schatz und ich bin dankbar, dass ich bei ihm sein konnte als er starb. 

Mein Vater ist gestorben. Einen Tag später, am 16. März 2010, schien die Sonne, nachdem es tagelang nur geregnet hatte. Ich fand das passend. Wie ein Zeichen des Himmels, das uns gesandt wurde. Unser Vater hatte uns die Sonne geschickt. Das war ein schönes Bild, das mir friedvolle Dankbarkeit schenkte.

Gleichzeitig war ich geschockt, dass das Leben um uns, in der Stadt weiterging als sei nichts geschehen. Da gab es keine Zäsur oder Innehalten. 

In der Zeit kurz nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich besonders verletzlich.

Manche Kommentare und Reaktionen meiner Mitmenschen begleiteten mich lange in Kopf und Herz. Die, die mir gut taten und die, die ich absolut unpassend fand. 

Mein Vater ist gestorben. Ohne die Trauerbewältigungsmethode The Grief Recovery Method von John James hätte ich nicht gewusst wie ich damit umgehen sollte. Ich hätte auch in der langen Krankheitsphase meines Vaters nicht so gut für mich sorgen können. Ich wusste was ich tun kann, um mit so einer existentiellen, herausfordernden Situation umgehen zu können.. Dafür bin ich unendlich dankbar.